Carpe diem!

Ich habe auf meinen letzten Blogeintrag hin viele liebe Nachrichten bekommen. Ich danke euch allen, dass ihr da seid, Worte findet, die sich von außen sicher nur schwer finden lassen. Dass ihr eure Hilfe anbietet oder einfach nur eine Schulter zum Anlehnen. Es tut gut, auch wenn ich mich immer wahnsinnig schwer tue, Hilfe anzunehmen… Eine Nachricht aber war ganz besonders. Von jemandem, der viel stärker ist als ich es jemals sein möchte. Jemand, dessen kleine Hannah jetzt an einem anderen Ort ist.
Liebe Blanka, ich danke dir, dass du vor ein paar Tagen diese wunderschöne Geschichte mit mir geteilt hast! Durch sie – durch dich – habe ich wieder ein kleines Stück mehr begriffen, dass ich das Schicksal annehmen muss. Dass sich mein Leben zwar grundlegend verändert hat und nie wieder so sein wird, wie bisher – aber dass es durch Hannah und trotz aller Umstände reicher geworden ist!
Wir haben immer Angst vor dem Fremden. Es ist bedrohlich, macht Angst. Und wir Menschen sind egoistisch und manchmal leider auch undankbar. Wieviel Zeit vergeuden wir im Leben damit, den Dingen nachzutrauern, die wir nicht hatten oder haben können, statt uns an den Dingen zu erfreuen, die direkt vor uns liegen. Vielleicht liegt es in unserer Natur. Vielleicht machen das Jäger und Sammler so? Haben es schon vor Tausenden von Jahren so gemacht?
Wir haben verlernt, die schönen Dinge im Leben zu sehen, sie zu schätzen. Und meistens – so wie bei uns – muss einen erst das Leben selbst dazu zwingen, wieder auf den Boden zurückzukommen. Ich möchte weder esoterisch (um Himmels Willen!) noch philosophisch werden. Ich möchte nur zum Nachdenken anregen…

Vergangene Woche hatte ich meinen persönlichen Tiefpunkt. Eine Mischung aus zu vielen Informationen, zu viel Direktheit, unsensibler Verpackung, nur schleppendem Begreifen und grenzenloser Sorge. All das endete darin, dass ich einen klassichen Kontrollverlust erlitt und vor Hannahs Arzt in Tränen ausbrach. Das Maß dessen, was ich ertragen konnte, war überschritten. Aber das war vielleicht auch lange überfällig und in dem Moment richtig. Denn seitdem geht es mir besser.

Niemand, vor allem nicht Eltern, möchte gesagt bekommen, dass man jeden Tag so leben sollte, als gäbe es keinen nächsten. Eltern können Sätze wie “Schieben sie mit Ihrem Kind nichts auf die lange Bank. Wollen Sie ins Legoland fahren? Dann fahren Sie! Sie wissen nicht, ob Ihr Kind morgen noch da sein wird! Und freuen Sie sich, wenn es dann 10, 20 oder 30 Jahre alt wird…” eigentlich nicht ertragen. Ich habe mich in den letzten Tagen immer wieder gefragt, wie man so etwas überhaupt sagen kann. Und noch mehr versuche ich eine Antwort auf die mich quälende Frage zu bekommen, wie ICH jemals mit solchen Sätzen im Hinterkopf leben soll. Wie kann ich ein Leben mit meinem Kind genießen, wenn ich täglich bangen muss, dass von einer Sekunde auf die andere alles vorbei sein kann. Kann ich mein Kind aus tiefstem Herzen lieben? Kann ich zulassen, dass meine Familie sie aus tiefstem Herzen liebt? Oder muss ich uns nicht irgendwie vor dem Moment schützen, wenn sie vielleicht nicht mehr da sein wird…? All das sind Fragen, die ich mir immer wieder gestellt habe. Vergeblich…
Und doch hilft einem das Leben dabei, Antworten zu finden. Nicht sofort und wenn wir es erwarten. Manchmal müssen erst Menschen ins eigene Leben treten, die einen die Dinge aus einem anderen Blickwinkel betrachten lassen…
Ich weiß nicht, woher ich die Kraft nehme, aber ich bin einen Schritt zurück getreten und habe mir all das mit ein wenig Abstand angesehen. Und ich habe verstanden, dass die Einstellung, jeden Tag seines Lebens zu genießen, gesund und richtig ist. Wir alle wissen nicht, was morgen sein wird. Egal, ob wir ein gesundes oder krankes Kind zu Hause haben. Egal, ob wir gesund oder krank sind. Warum sollten wir nicht also das Leben genießen? Bedingungslos lieben? All das tun, was wir schon immer mal tun wollten? Unserem Herzen folgen und Regeln brechen? Die schönen Dinge des Lebens genießen! Das Leben ist so kurz.

Life is short, break the rules, forgive quickly, kiss slowly, love truly, laugh uncontrollably, and never regret anything that made you smile.

Twenty years from now you will be more disappointed by the things you didn’t do than by the ones you did. So throw off the bowlines. Sail away from the safe harbor. Catch the trade winds in your sails. Explore. Dream. Discover. – Mark Twain
 

Ich möchte euch die Geschichte, von der Blanka mir erzählte, nicht vorenthalten. Vielleicht kennt ihr sie. Und wenn nicht: Genau SO fühlt es sich an. Und wer mich kennt, wird vielleicht sogar schmunzeln. Denn eigentlich liebe ich Holland… 😉

Willkommen in Holland

©1987 Emily Perl Kingsley, alle Rechte vorbehalten

Oft werde ich gebeten, meine Erfahrungen zu beschreiben, wie es ist, ein behindertes Kind aufzuziehen. Damit Menschen, die nicht diese einzigartige Erfahrung gemacht haben, es verstehen und sich vorstellen können, wie sich das anfühlen würde. Das ist etwa so…

Wenn Sie ein Baby erwarten, dann ist das so ähnlich, als würden sie einen fabelhaften Urlaub planen – nach Italien. Sie kaufen einen Haufen Reiseführer und machen wundervolle Pläne. Das Kolosseum. Der David von Michelangelo. Die Gondeln in Venedig. Vielleicht lernen Sie ein paar nützliche Redewendungen auf Italienisch. Es ist alles sehr aufregend.
Nach Monaten freudiger Vorbereitungen ist der Tag schließlich da. Sie packen Ihre Koffer, und los geht’s. Ein paar Stunden später landet das Flugzeug. Die Flugbegleiterin kommt herein und sagt: Willkommen in Holland.
Holland, sagen Sie. Was meinen Sie mit Holland?? Ich habe Italien gebucht. Ich sollte in Italien sein. Mein ganzes Leben lang habe ich davon geträumt, nach Italien zu reisen.
Aber es hat eine Änderung des Flugplans gegeben. Sie sind in Holland gelandet, und dort müssen Sie bleiben.
Das Entscheidende ist, dass man Sie nicht an einen schrecklichen, widerwärtigen, ekligen Ort voller Hunger und Krankheit verfrachtet hat. Es ist einfach nur ein anderer Ort.
Also müssen Sie losziehen und neue Reiseführer kaufen. Und Sie müssen eine völlig neue Sprache lernen. Und Sie werden ganz andere Menschen treffen, denen Sie sonst nie begegnet wären.
Es ist nur ein anderer Ort. Hier geht alles langsamer als in Italien, weniger aufregend. Aber wenn Sie dort erst einmal eine Weile gewesen und zu Atem gekommen sind, sehen Sie sich um… und Sie stellen fest, dass es in Holland Windmühlen gibt,… und in Holland gibt es Tulpen. In Holland gibt es sogar Rembrandts.
Doch all ihre Bekannten waren in Italien oder wollen dort hin,… und sie alle prahlen damit, was für eine tolle Zeit sie da hatten. Und bis ans Ende Ihres Lebens werden Sie sagen: Ja, dahin hatte ich auch gehen wollen. So hatte ich es geplant.
Und dieser Schmerz wird niemals, wirklich niemals vorübergehen… denn der Verlust dieses Traumes ist ein sehr, sehr schwerwiegender Verlust.
Aber… wenn Sie Ihr Leben damit verbringen, der Tatsache nachzutrauern, dass Sie nicht nach Italien gekommen sind, werden Sie niemals frei sein, die ganz speziellen, wunderschönen Dinge zu
genießen,… die es in Holland gibt.

1 Kommentar on Carpe diem!

  1. Anonymous
    22/02/2014 at 21:08 (10 Jahren ago)

    Liebe Jessica, <br /><br />schön zu lesen, dass es die ersten Lichtblicke für euch gibt.<br />Die Holland-Geschichte ist wirklich wunderbar !<br />Auch ich liebe Holland und habe nach meiner Zeit auf der Kinderintensiv eine Weile in einem Heim für mehrfach schwerstbehinderte Kinder gearbeitet – hätte ich doch diese Geschichte damals schon gekannt !<br /><br />Ich wünsche dir, deiner kleinen Maus

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